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Der Unort
Leben an der Murtenstrasse 71

Die Aussicht ist atemberaubend: Der Blick schweift von den Jurahängen über die denkmalgeschützten Hallen der ehemaligen GM-Autofabrik und das Schloss Nidau hinweg bis zum See – und weiter, über die einst prachtvollen, vom bekannten Sutzer Architekten Friedrich von Rütte entworfenen und längst umgenutzten Gebäude des Bieler Schlachthofs, ins grüne Mühlefeldquartier.

Ein Rundblick, den Heinz und Rosmarie Lachat auch nach über vierzig Jahren nicht missen möchten. Kein Wunder, beginnt die Besichtigung der liebevoll eingerichteten 3,5-Zimmerwohnung auf dem Balkon. Allerdings verderben neuerdings hässliche Zukunftsbilder den Panoramagenuss: Mit einer ausladenden Bewegung umschreibt Heinz Lachat die Ausmasse des geplanten Autobahnanschlusses hinter dem Bieler Banhof: Der Kreisel, mit einem Durchmesser von 60 Metern und zwei Verbindungsrampen, käme direkt vor ihre Haustüre zu liegen. «Das ist monströs!» ereifert sich Heinz Lachat. «Dieses ganze Westast-Projekt ist purer Grössenwahn und ein Verhältnisblödsinn!»
 
18 Jahre lang hat sich der heute 80jährige SP-Politiker als Mitglied des Stadtrats für die Entwicklung Biels engagiert, von 1994 bis 2002 sass er zudem im Bernischen Grossen Rat. Im Zusammenhang mit der N5 habe man früher stets von einer Umfahrungsstrasse gesprochen, um die Stadt zu entlasten. «Was aber jetzt gemacht werden soll, hat nichts mit Umfahrung zu tun», sagt er bitter, «das ist eine Durchschneidung der Stadt.»    

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Als ehemaliger Buschauffeur kennt Heinz Lachat die Entwicklung des Verkehrs in Biel wie kaum ein anderer. In den letzten 40 Jahren habe sich viel verbessert, sagt er: «Früher fuhr man noch in beide Richtungen durch die Nidaugasse. Auf dem Zentralplatz, auf der Mühlebrücke und an der Dufourstrasse regelte ein Polizist den Verkehr – oft gab es im Zentrum ein Chaos.» Heute ist die Nidaugasse Fussgängerzone, der Zentralplatz und die Bahnhofstrasse sind verkehrsberuhigt... Auch die noch bestehenden Verkehrsprobleme seien lösbar, ist Heinz Lachat überzeugt. Allerdings nicht mit einer Autobahn: «Diese bringt keine Entlastung, sondern zusätzliche Autos.»
 
Das damals hypermoderne Hochhaus am Bahndamm war Heinz Lachat während seiner Busfahrten ins Auge gestochen. Als der Neubau 1964 fertig war, konnten sie gerade noch die letzte Wohnung im Parterre ergattern. Elf Jahre mussten sie auf ihre Traumwohnung im 6. Stock warten. Seither haben sie sich in luftiger Höhe ihr Zuhause liebevoll eingerichtet: Vom Badezimmer über die Küche, das Wohnzimmer – alles haben sie im Lauf der Zeit selber renoviert, erneuert, verschönert. Anfänglich hätten in allen 32 Wohnungen Schweizer gewohnt – heute hingegen sei ihr Haus ein Musterbeispiel, wie multikulturelles Zusammenwohnen funktionieren könne, erklären sie stolz. Dank dem engagierten Besitzer und der langjährigen Abwartin – der Seele des Hauses – sei das Haus heute in einem wesentlich besseren Zustand als noch vor ein paar Jahren.    

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Als das Ehepaar Lachat an der Murtenstrasse 71 einzog, wurden gleich gegenüber im Werk von General Motors Schweiz noch Autos produziert. Während der Stosszeiten, insbesondere bei Schichtanfang und -ende, war an der Ecke Salzhausstrasse-Murtenstrasse viel los. Lärm brachte auch der Schlachthof, wo die Tiere an Schlachttagen bereits ab vier Uhr morgens angeliefert wurden. «Das Muhen der Kühe und insbesondere das Quieken der Schweine war manchmal kaum auszuhalten», erinnert sich Rosmarie Lachat. Trotzdem wollten sie nie weg: Die ideale Wohnlage, die Nähe zum Zentrum und zum Bahnhof, das Haus, die vergleichsweise günstige Miete – die über die Jahre selber gestaltete Wohnung mit den grosszügigen Zimmern, und natürlich die wunderbare Aussicht...
 
Die Befürworter des Westast-Anschlusses beim Bahnhof, bezeichnen die Ecke Murtenstrasse-Salzhausstrasse als einen Unort: Für Rosmarie und Heinz Lachat ist es das Gegenteil, nämlich Heimat. Auf die Frage, ob ihnen das Westast-Projekt Sorgen mache, sagt Rosmarie Lachat: «Laut neusten Informationen bleibt das Haus stehen. Wer aber will direkt über einem Autobahn-Loch leben?» Was dann? Die traurige und pragmatische Antwort von Heinz Lachat: «Wir sind jetzt 78 und 80 Jahre alt – Baubeginn ist frühestens in vier Jahren. Vielleicht werden wir ihn gar nicht mehr erleben müssen – und die Fertigstellung der Autobahn sowieso nicht.»    

© Text: Gabriela Neuhaus
© Bilder: Anita Vozza